Hygienemaßnahmen dürfen nicht zu Zwang und Ausbeutung migrantischer Saisonarbeiter*innen führen

Von der aktuellen Pandemie sind migrantische Arbeiter*innen besonders betroffen, sei es auf dem Spargelfeld, in den Schlachtbetrieben, in der Pflege oder im Reinigungsgewerbe.
Sie sind der Gefahr von Ausbeutung und Zwang ausgesetzt. Ihre Abhängigkeit und Isolation machen sich einige Arbeitgeber*innen in krimineller Weise zunutze.

Die Wirtschaft in Deutschland ist auf migrantische Arbeiter*innen angewiesen. Aktuell wird deutlich, wie sehr gerade saisonal arbeitende Wirtschaftszweige auf sie angewiesen sind, beispielsweise bei der Ernte von Spargel oder Erdbeeren. Die vom Bundesinnen- und Bundeslandwirtschaftsministerium kurzfristig erlassenen Vorschriften zum Infektionsschutz gegen COVID-19 führen dazu, dass Grund- und Arbeitsrechte der Beschäftigten derzeit in Gefahr sind 

Isolierung und Abhängigkeit führt zu Zwang und Ausbeutung 

Von den Erntearbeiter*innen in Deutschland kommen 95 Prozent aus dem Ausland. Die Bundesregierung hat sich mit den Bauernverbänden auf Ausnahmeregelungen zur begrenzten Einreise von jeweils bis zu 40.000 im April und Mai für Saisonarbeiter*innen verständigt. Die Vereinbarung hierfür lässt befürchten, dass deren Abhängigkeit von den Arbeitgeber*innen noch wesentlich höher ist als in den Jahren zuvor. Diese Abhängigkeit ermöglicht Zwang und Ausbeutung. So dürfen die Erntehelfer*innen in der Zeit der 14-tägigen Quarantäne das Betriebsgelände weder verlassen noch Besuche empfangen. Sie sind von ihrem*ihrer Arbeitgeber*in abhängig bei Unterkunft, Verpflegung, Hygiene sowie der Ein- und Ausreise. 

Die Beschäftigten werden nur rudimentär über die Situation informiert, in die sie sich begeben. Information über Arbeitsstandards und Arbeitsrechte, sowie über Beratungsangebote bekommen sie bisher nicht 

Ein Wechsel des Betriebes bei Konflikten und die Modalitäten der Rückreise (individuell oder gemeinsam, Reisemittel) sind nicht geklärt. Ebenso undeutlich ist, wer die (vergleichsweise hohen) Kosten für Reise und Unterkunft trägt. Erste Konfliktfälle deuten darauf hin, dass Arbeitgeber*innen entgegen der Ankündigungen bei der Anwerbung die Flugkosten wie auch die Unterkunftskosten und hygienebedingte Arbeitsmittel in Rechnung stellen. Dies ist ein erhebliches Kostenrisiko für die Erntehelfer*innen, es besteht das Risiko einer “Schuldenfalle”, die dann von der/dem Arbeitgeber*in ausgenutzt werden kann, um ungünstige Arbeitsbedingungen durchzusetzen. In einem Fall wurden sogar die Pässe der Erntehelfer*innen eingezogen, um sie am Verlassen des Hofes zu hindern. Dies ist ein zentrales Indiz für Zwangsarbeit nach §232 b StGB. 

Nach den Erfahrungen von Beratungsstellen in den vergangenen Jahren bekommen Saisonarbeiter*innen ihren Lohn oft erst am Ende der Erntezeit ausgezahlt. Wenn sie kündigen wollen – z.B. aufgrund von schlechten Arbeits- oder Unterkunftsbedingungen oder mangelnder hygienischer Vorsorge – stehen sie oft buchstäblich vor dem Nichts. Sie verlieren die Unterkunft und bekommen in der Regel auch kein Geld ausbezahlt. Das Besuchsverbot bedeutet ein hohes Maß an Isolation der Arbeitnehmer*innen. Die Abreise kann zudem teilweise nur in Abstimmung mit den Landwirt*innen und Arbeitgeber*innen organisiert werden, was eine weitere Einschränkung der persönlichen Entscheidungsfreiheit darstellt.  

Anzeichen für Zwang und Ausbeutung von migrantischen Arbeiter*innen nehmen durch die aktuelle Situation der Pandemie also deutlich zu. Zugleich sind Arbeiter*innen in der Isolation der Quarantäne für Beratungsstellen, Gewerkschaften und andere Hilfsangebote schwer erreichbar, vor allem, wenn die Menschen die Betriebstätten nicht verlassen können.  

Wahrung von Arbeits- und Menschenrechten in der Pandemie 

Auch in der weltweiten Pandemie müssen Arbeitsrechte und Menschenrechte gewahrt und durchsetzbar bleiben. Migrantische Arbeiter*innen, die sich auch ohne eine weltweite Krise gegen Ausbeutung allein schwer wehren können, brauchen solidarische und staatliche Unterstützung und Möglichkeiten, Missstände anzeigen zu können, die Arbeitsstätte zu wechseln und sich frei bewegen zu können.

Anforderungen für einen Schutz vor Zwang und Ausbeutung auch in Zeiten der Pandemie: 

  • Ausführliche und transparente Informationen über Verpflegung, Unterbringung und eingeschränkte Bewegungsfreiheit bedingt durch die Infektionsschutzmaßnahmen vor dem Abschluss des Arbeitsvertrages und Abreise aus dem Herkunftsland. 
  • Klare und transparente Information zu Kosten für Reise, Unterkunft und Verpflegung vor der Abreise und wer diese zu tragen hat.
  • Sicherstellung der Übernahme der Kosten durch den*die Arbeitgeber*in für Verpflegung und Unterkunft für die Zeit der Quarantäne. 
  • Zulassung von Gewerkschaften und Beratungsstellen zu Informationszwecken und Unterstützung auf dem Betriebsgelände.  
  • Information über Möglichkeiten muttersprachlicher Beratung und Information zu Arbeitsrechten und Gesundheitsmaßnahmen für alle Arbeiter*innen. 
  • Gezielte und regelmäßige Überprüfungen der Arbeitsbedingungen und Unterkünfte seitens des Zolls, bzw. der Finanzkontrolle Schwarzarbeit, und der Gesundheits– und Arbeitsschutzbehörden. 
  • Bezahlte Rückkehrgarantie ins Heimatland durch den*die Arbeitgeber*in auch bei vorzeitiger arbeitnehmerseitiger Vertragskündigung.  
  • Lohnfortzahlung, eine menschenwürdige Unterkunft und Garantie der Kostenübernahme von Krankheits- oder etwaiger Überstellungskosten durch den*die Arbeitgeber*in, sofern keine Krankenversicherung greift.

Indikatoren für Arbeitsausbeutung, Zwangsarbeit oder Menschenhandel bei Erntehelfer*innen:

Täuschung bei der Anwerbung durch 

– fehlende oder falsche Informationen zu Reisekosten 

– fehlende oder falsche Informationen zu den Quarantänebestimmungen 

– fehlende oder falsche Informationen zu den Kosten der Versorgung in der Quarantäne-Zeit 

– falsche Angaben zu wöchentlicher Arbeitszeit 

– falsche Angaben zur Entlohnung (vor Ort Akkordlohn anstatt Mindestlohn)

Ausbeutung und Zwang an der Arbeitsstelle durch  

– Isolation auf dem Hof, kein Zugang zu Beratungsstellen oder anderen Stellen 

– Abhängigkeit von Arbeitgeber*in in allen Belangen (Lohn, Unterkunft, Verpflegung, Ein- und Ausreise, Gesundheit) 

– Unterschreitung des Mindestlohns um 50% durch Akkordlohn 

Lohnmanipulation durch (überhöhte) Abzüge für Verpflegung und Unterkunft 

– Konfiszierung der Ausweisdokumente 

 

Die vollständige Stellungnahme als PDF anschauen oder herunterladen:

thumbnail of 20200525 Stellungnahme der Servicestelle zu Auswirkung von COVID19 auf MHA final